Bericht | Die Unperfekten

Verschroben! Grotesk! Musikalisch! Don Quixotes Erben. Der kleine Stadtteilladen wird etwas eng, denn eine Reihe interessierter Menschen haben sich diesen Abend frei genommen. Rainer Leschhorn vom Kulturverein Löbtau begrüßt uns Gäste. Heitere Stimmung herrscht im Publikum. Auf der provisorischen Bühne ein Akkordeon, Gitarren, eine Trompete, Tisch und zwei Stühle. Leise Töne erklingen. Berndt Meyer entlockt der alten Harmonika einige bröckelnde Melodiefragmente.

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Eine kleine, lebensfroh wirkende Frau begleitet einen kräftig gebauten Mann mit einem Rollator und dirigiert ihn in die Lücke neben den Tisch. Der Mann wuchtet sich wankend eigenhändig auf den nächst stehenden Stuhl. Ich sehe auffallend schwere orthopädische Stiefel, dick gepolsterte gelenkschützende Bandagen. Er trägt einen dunklen Fahrradhelm mit einer verrückten bunten Kunststoffblume oben auf, in der Art eines Propellers. Verschroben? Grotesk? Musikalisch! Ich spüre Unsicherheit bei mir, bei anderen im Publikum. Wird das tatsächlich ein heiterer Abend mit Witz und Harmlosigkeiten? Ich muss genau hinhören, um die ersten Sätze zu verstehen. Der Mann spricht unsauber, nuschelt, tastet sich von Wort zu Wort. Kabarett? Comedy? Zu ernst entfaltet sich aber das Thema. Bergbesteigung. Sequenzen, Scherben. Verletzungen werden spürbar, Erlebnisse des Ausgegrenztseins eines körperlich zertrümmerten Menschen werden bruchstückweise erzählt. Mancher Satz impulsiv herausgeworfen. Ich höre Schmerz, im nächsten Moment beißenden Spott über Dummheit und Konsumgeramsche, Sich-selbst-genügen und einfaches Stumpfsein von Menschen, denen er täglich begegnet ….

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“… Er war einer der Ersten am Unfallort, versuchte, eine Frau aus dem Wrack zu befreien … vor nunmehr 30 Jahren … wurde währenddessen von einem anderen Fahrzeug erfasst … er war gerade 21 … schwerste Verletzungen … Sprache, das Augenlicht, Motorik, alles irreparabel beschädigt … Die Frau verdankt ihm ihr Leben … Viele Operationen folgten, sollten helfen. Es wurde nicht besser. Schlimmer sogar … Aber, er lässt sich nicht unterkriegen. Er will nicht im Rollstuhl sitzen … Früher schon träumte er von der Theaterbühne …” So erzählt mir Heide Schäfer während einer Pause von seinem Schicksal. Seit vielen Jahren sind sie und Sven Scheunig alias Mike Scholz befreundet. Sie betreut ihn, kümmert sich um ihn und steht mit ihm auf der Bühne. Die Stücke schreibt er selbst. Sie spiegeln Erlebnisse, wenig amüsante Anekdoten aus dem Leben eines schwer beeinträchtigten Menschen. Sie verraten die Scheu von Mitmenschen, Ablehnung und nicht ganz selten pures Unverständnis. Sie zeigen aber auch die Unerschrockenheit eines Mannes, der sich nicht in eine fremdbestimmte Opferrolle drängen lässt. “Ich bin Krüppel. Da lässt sich nichts schönreden.” Er lebt. Will es. Bungee-Jumping in Neuseeland. Geht nicht, gibt es nicht für den heute Fünfzigjährigen. Nicht für ihn. Er trotzt allem Widerstand. Notfalls mit Lautstärke, oder Spott. Sein Protest ist nicht zu überhören. Er will kein Mitleid, sondern Mitspracherecht. Das nimmt er sich, auch, indem er schreibt. So bleibt er sich treu: ehrlich unbequem. Im Moment kreißt eine neue Idee in seinem Kopf, erzählt er mir. Die Filmserie Der Schwarm jüngst im Fernsehen gab ihm den Anstoß dazu. “Die Schwierigkeit …”, so sagt der hünenhafte Künstler, “… ist die Zeit.” Die Art des Theaters, die er gewählt hat und die er zu leisten vermag, hat nicht den Raum wie eine Fernsehserie. Er müsse alles mehr konzentriert gestalten.

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Gebt mir ein H!” Sehr zögerlich reagieren wir als Publikum. Das lässt der Mann auf der Bühne nicht gelten. “Noch einmal, ein H!” Es gelingt besser. “Gebt mir ein I, ein L, ein F, ein E!” Wir lernen schleppend. Das komplette “Hilfe! Hilfe!Hilfe!” müssen wir ebenso wiederholen. “Lauter!” Wir sind es nicht gewohnt, so zu schreien in der Öffentlichkeit. Wann braucht man das schon. Doch Mike Scholz erzählt den Alltag: “Können Sie mir bitte helfen und meine Schuhe zubinden!” Eigentlich eine einfache Bitte. Eigentlich. “Meint ihr nicht auch, dass man für so etwas eine spezielle Ausbildung braucht, eine Art Schnürsenkel-Management-Diplom?!” Das ist oft seine Erfahrung: Menschen, die genau so ticken. Stehlen sich damit aalglatt aus der Verantwortung. Ein bisschen fühle ich mich ertappt. Wie würde ich reagieren? Selbstverständlich und spontan: “Klar, kein Problem?” Oder doch nicht? … Während ich so noch nachsinne, wird ein weiterer provokanter Satz ins Publikum geschleudert: “Viele Deutsche sind wie kleine Köter …” Mike Scholz nimmt kein Blatt vor den Mund. Und so werde ich mitgerissen, beginne zu begreifen und spüre, dass die Zeit heute abend definitiv keine verlorene Zeit war, ebensowenig Klamauk. Im Gegenteil. Dank gilt Sven Scheunig alias Mike Scholz für seine Offenheit, Heide Schäfer und Berndt Meyer, den unperfekten Don Quixotes Erben.

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Wer mehr über das Leben dieses außergewöhnlich kämpferischen Mannes mit all den Erfahrungen eines schwer gezeichneten Menschen erfahren möchte, kann seine schonunglos offene Autobiographie Krüppelmemoiren lesen, herausgegeben unter dem Pseudonym Mike Scholz. In der Buchlese29 in Löbtau lassen sich die inzwischen drei Bände bequem bestellen >>

Text und Fotos: Lars Uhlmann.

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